Aktuelle Ausgabe
Die Beiträge der neuesten Ausgabe Sonderheft, 2021 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie können Sie direkt online über den SpringerLink lesen.
Abhandlungen
Vergleichende Soziologie, kritischer Realismus und Reflexivität
Georg Steinmetz
KZfSS 73, 2021: 49-74 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der Beitrag beschäftigt sich mit soziologischen Herangehensweisen an den Vergleich und schlägt dazu eine postpositivistische Alternative vor. Der erste Teil behandelt den Vergleich als einen allgemeinen Aspekt der kognitiven Tätigkeit und der sozialen Existenz des Menschen. Der zweite Teil konzentriert sich auf die beiden bislang einflussreichsten Konzepte des Vergleichs, die beide aus den Praktiken des sozialen oder alltäglichen Vergleichs entsprungen sind. Die sogenannte komparative Methode (und die Modernisierungstheorie nach 1945) ging aus den Praktiken der wechselseitigen Beobachtung von Kulturen, Staaten und Imperien hervor. Sie bestand üblicherweise darin, das europäische Modell auf den „Rest der Welt“ anzuwenden und postulierte allgemeine Gesetze der sozialen Evolution. Die zweite Herangehensweise war die sogenannte Mill’sche Methode, die die qualitative vergleichende Soziologie in den 1980er-Jahren dominierte. Sie ersetzte den Evolutionismus durch eine neopositivistische Epistemologie, die Kausalgesetze zu identifizieren suchte. Auch dieser Zugriff entstand aus Kontexten des sozialen Vergleichs, nämlich aus den kompetitiven und vergleichenden Interaktionen innerhalb der zunehmend feldähnlichen Disziplinen der Soziologie und Politikwissenschaft. Im dritten Teil plädiere ich für ein alternatives Konzept des soziologischen Vergleichs, das sich auf den Kritischen Realismus stützt. Dieser bricht mit zwei philosophischen Doktrinen, die im Commensense, der empirizistischen Ontologie und der positivistischen Epistemologie wurzeln. Abschließend schlage ich vor, diesen Beitrag als eine Form wissenschaftlicher Reflexivität in der Lesart von Pierre Bourdieu zu verstehen, nämlich als einen Bruch mit den Kategorien des Commensense und mit der Doxa des Faches. Bourdieus Zugang eröffnet einen Weg zurück zum wissenschaftlichen und zum sozialen Commonsense. Wie sich zeigt, ist ein vergleichender Commonsense dem kritischen Realismus oftmals näher als andere Vergleichstheorien.
Schlüsselwörter: Interkultureller Vergleich · J.S. Mill · Kritischer Realismus (Wissenschaftsphilosophie) · Pierre Bourdieu · Reflexivität
Macht – Leistung – Kultur: Staatenvergleiche vom 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert
Willibald Steinmetz
KZfSS 73, 2021: 75-112 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Praktiken des Vergleichens und Bewertens von Staaten mittels Zahlen haben eine lange Geschichte. Seit der Frühen Neuzeit erlebten sie einen Aufschwung infolge fiskal-militärischer Rivalität zwischen größeren und kleineren Mächten innerhalb wie außerhalb Europas. Im Laufe des langen 19. Jahrhunderts kamen zusätzliche Kriterien ins Spiel: Neben militärischer und demografischer Stärke wurden nun ökonomische Leistungsfähigkeit, soziale Vorsorge für die Einwohner sowie kulturelle Errungenschaften wichtiger. In einem ersten Schritt benennt der Beitrag wesentliche Voraussetzungen für die heute etablierten Praktiken des Rankings von Staaten: Serialität und Standardisierung der Datenerhebung, Existenz international anerkannter centres of calculation, relevante Öffentlichkeiten als Nachfrager für Staatenvergleiche, eine Vision von Geschichte als Fortschritt, welche staatliche Akteure nötigte, sich im Verhältnis zu anderen als „vorauseilend“ oder „zurückgeblieben“ einzuordnen. Die empirischen Teile des Beitrags widmen sich der Entfaltung staatenvergleichender Praktiken in West- und Mitteleuropa vom späten 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert. In exemplarischen Studien werden Autoren und Institutionen behandelt, die Staaten quantifizierend zu vergleichen suchten (englische politische Arithmetiker, deutsche Tabellenstatistiker, nationale statistische Bureaus, internationale statistische Kongresse). Ebenfalls berücksichtigt werden qualitative Staatenvergleiche in der deskriptiven deutschen „Statistik“ des 18. Jahrhunderts oder durch visuelle Präsentationen auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts. Schließlich kommen im Beitrag auch Kritiker zu Wort, die im Namen der Singularität von Nationen, Staaten oder Imperien gegen deren Reduktion auf wenige zählbare Größen protestierten. Die Geschichte der Staatenvergleiche im 18. und 19. Jahrhundert lief also keineswegs geradlinig auf immer mehr Quantifizierung hinaus. Vielmehr war sie die Geschichte einer umstrittenen Praxis, in der „progressive“ besser-schlechter-Vergleiche stets mit solchen Vergleichen rivalisierten, die auf essenzialisierte Andersartigkeit abhoben.
Schlüsselwörter: Statistik · Fiskal-militärischer Staat · Wettbewerb · Progressiver Vergleich · Nationale Singularität
Das Unbehagen an der Ordinalisierung
Alex V. Barnard · Marion Fourcade
KZfSS 73, 2021: 113-135 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Es gibt eine breite Literatur, die die Auseinandersetzungen untersucht, die in vielen institutionellen Kontexten über den Inhalt und Einsatz von Kategorien geführt werden. Demgegenüber argumentieren wir, dass nicht nur die Art der Kategorien umstritten ist, sondern auch die ihnen zugrundeliegenden Klassifikationsprinzipien. Im Anschluss an Fourcade (2016) identifizieren wir drei solcher Klassifikationsprinzipien: nominale Typologien, kardinale Zählungen und ordinale Rankings. Unsere These ist, dass die gegenwärtigen Gesellschaften durch eine Logik der Ordinalisierung gekennzeichnet sind. Ausdruck dieser Ordinalisierung sind die zunehmende Fluidität von Identitäten, die verbreitete Verwendung von Verfahren der Risikoeinschätzung und eine wachsende politische Polarisierung entlang einer einzigen Dimension, der links/rechts-Achse. Dieser Prozess verläuft jedoch ungleichförmig und ist auch umstritten. Die weiterhin bestehende Bedeutung nominal unterschiedener Gruppen („race“ ist dafür das herausragende Beispiel), der Widerstand, der sich gegen eine um sich greifende Kommensurierung formiert, und eine populistische „kardinale Revolte“, die numerische Mehrheiten zum alleinigen Maßstab für politische Legitimität erklärt, repräsentieren unterschiedliche und mehr oder weniger explizite Formen des Unbehagens an einer zunehmend ordinalisierten Moderne. Unser Zugang liefert einen theoretischen Rahmen, der es erlaubt, den gesellschaftlichen Wandel wie auch Unterschiede zwischen den Ländern in Termini der Klassen von Klassifikationen zu erfassen, die Gesellschaften in Bewegung setzen.
Schlüsselwörter: Klassifikation · Zahlen · Kategorien · Soziale Theorien · Typologien
Big Observation – Ein Vergleich moderner Beobachtungsformate am Beispiel von amtlicher Statistik und Recommendersystemen
Bettina Heintz
KZfSS 73, 2021: 137-167 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der Beitrag verortet digitale Technologien in der Geschichte moderner Beobachtungsformate. Das Konzept des Beobachtungsformats verhilft dazu, Einrichtungen in einen Zusammenhang zu bringen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: die amtliche Statistik, die Meinungs- und Marktforschung, Monitoringsysteme und digitale Beobachtungsinstrumente wie Suchmaschinen, soziale Netzwerke oder Recommendersysteme. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass es sich in allen Fällen um Instanzen handelt, die regelmäßig Daten erheben und in diesen Daten nach Ordnungsmustern suchen. Sie sind markante Beispiele des Quantifizierungsschubs, der die (westlichen) Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert erfasst hat. Der Beitrag greift zwei Beispiele heraus – die Bevölkerungsstatistik als historisch erstes modernes Beobachtungsformat und personalisierte Recommendersysteme als prototypischen Fall digitaler Beobachtungsinstrumente – und vergleicht sie in Hinblick auf ihre Beobachtungstechnik: Wie werden die Zahlen fabriziert, mit deren Hilfe die amtliche Statistik die Gesellschaft beobachtet, und welche Beobachtungsverfahren setzen Recommendersysteme ein, um zu personalisierten Empfehlungen zu gelangen, und welche Rolle spielen dabei Vergleich, Bewertung, Kategorisierung und Quantifizierung? Der Vergleich macht nicht nur sichtbar, wie Statistiken und digitale Technologien beobachten und worin sich ihre Beobachtungstechnik unterscheidet, sondern er gibt auch Aufschluss darüber, wie sich die Praktiken und Prämissen sozialer Beobachtung in den letzten 200 Jahren verändert haben.
Schlüsselwörter: Geschichte der Statistik · Digitalisierung · Soziale Vergleiche · Quantifizierung · Kategorisierung
Vergleichsverbot? Bevölkerungsstatistiken und die Frage der Vergleichbarkeit in den deutschen Kolonien (1885–1914)
Léa Renard
KZfSS 73, 2021: 169-194 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht das Verhältnis von statistischen Klassifikationen und Vergleichen in deutschen Kolonialstatistiken zwischen 1885 und 1914 und geht der Frage nach, welche Bedeutung und welche Ausprägungen dem Vergleich in Bezug auf Raum und Bevölkerung in kolonialen Statistiken zukamen. Ziel ist, den Blick für Methoden und Kategorien der statistischen Praxis im imperialen Kontext zu schärfen. Die Ergebnisse zeigen, dass der statistischen Beobachtung der Kolonien eine territoriale Grundunterscheidung zwischen Metropole und Kolonien zugrunde lag, die in unterschiedlichen Methoden mündete. Diese territoriale und methodologische Spaltung war mit einer grundsätzlichen Unvergleichbarkeit zwischen kolonisierter Bevölkerung und Kolonisierenden gekoppelt, so die These des Beitrags.
Schlüsselwörter: Klassifikation · Kolonialismus · Zensus · Territorialität · Deutsches Kaiserreich
Die Differenz Haushalt vs. Markt als latentes Beobachtungsschema
Theresa Wobbe
KZfSS 73, 2021: 195-222 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Ausgehend von der Teilung in nichtaktive (Haushalt) und aktive Bevölkerung (Markt) fragt der Beitrag nach der Rolle, die statistische Vergleichsverfahren bei dieser Grenzziehung in der Welt der Arbeit spielen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Verzweigung von zwei strukturellen Entwicklungen, nämlich dem Wandel der (Arbeits‑)Welten und der statistischen Vergleichsverfahren. Der Beitrag gehört zu den ersten, der diese Nahtstelle systematisch und empirisch an der nationalen und internationalen (Beschäftigungs‑)Statistik untersucht. In diesem Beitrag schlage ich vor, die beiden Beobachtungsebenen als ein Feld der inter/nationalen Statistik zu verstehen. Ihre Ähnlichkeiten, Unterschiede und Verzweigungen werden soziologisch bislang noch nicht wahrgenommen. Im Unterschied dazu behandele ich sie aus einer wissensgeschichtlichen und wissenssoziologischen Perspektive gemeinsam hinsichtlich ihrer Selektionsleistungen, Beobachtungsinstrumente und Beschreibungsebenen. Die Ergebnisse zeigen die zunehmende Spezifizierung und Ausdehnung der ökonomischen Dimension von Arbeitstätigkeiten, die durch die Ordnungstechniken der inter/nationalen Statistik, verstärkt nach 1945, forciert werden. Diese Verschiebungen, so das Argument, sind eng mit dem Aufstieg des technischen Wissens im „technical internationalism“ verbunden, die nach 1945 das statistische und das Alltagsverständnis von der wirtschaftlich nichtaktiven Haushaltsarbeit bekräftigen.
Schlüsselwörter: Grenzziehungen von Arbeit · Statistische Ordnungstechniken · Geschlechtliche Kategorisierung · Objektivierung · Normalisierung
„Who are we and how many?“ – Zur statistischen Konstruktion globaler Personenkategorien
Hannah Bennani · Marion Müller
KZfSS 73, 2021: 223-252 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Ausgehend von der Annahme, dass Personenkategorien in internationalen Statistiken nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch (mit-)erzeugt, reproduziert und objektiviert werden, fragt der Beitrag danach, wie genau Zahlen über personale Differenzierungen mit einem globalen Geltungsanspruch zustande kommen. Datengrundlage sind Dokumente aus internationalen Organisationen zu den entsprechenden politischen Entscheidungen sowie technische Anweisungen und Methodenhandbücher mit Erhebungsempfehlungen. Mithilfe einer wissenssoziologisch inspirierten Detailanalyse werden die üblicherweise nicht mehr sichtbaren Schritte der Quantifizierung anhand ausgewählter Beispiele (u. a. „Alter“, „Geschlecht“, „Ethnizität“, „Behinderung“) rekonstruiert: angefangen bei der begrifflichen Standardisierung personaler Merkmale, über ihre Operationalisierung und Festlegung von Indikatoren bis hin zur Aggregation der Einzelfälle zu Zahlen auf Weltebene. Dabei werden sowohl die Spannungen sichtbar, die zwischen der möglichst differenzierten Erfassung verschiedener Personen und der enormen Komplexitätsreduktion von Zahlen bestehen, als auch die Herausforderungen der Etablierung eines globalen Äquivalenzraumes. Der Beitrag verbindet damit vor allem Fragen der Kategorisierungs- und Quantifizierungsforschung und liefert innovative Einsichten darüber, wie genau kategoriale Differenzierungen zwischen Menschen in Zahlen transformiert und mit Objektivität versehen werden.
Schlüsselwörter: Humandifferenzierungen · Kategorisierungsforschung · Quantifizierung · Globalisierung · Wissensoziologie
Quantifizierung der Weltumwelt. Zur Geschichte einer Kommunikationsform
Daniel Speich Chassé
KZfSS 73, 2021: 253-275 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Umweltrelevante Problemstellungen sind politisch lange fast ausschließlich in lokalen und nationalen Kontexten bearbeitet worden, obwohl politische Grenzen in naturräumlichen Sachzusammenhängen keine Rolle spielen. Doch heute gehört die globale Umweltproblematik zu den zentralen Herausforderungen der Weltpolitik. Der Beitrag fragt, seit wann und in welcher Form „Umwelt“ als ein alle Menschen betreffendes Problem wahrgenommen wurde, das nach gemeinsamen politischen Lösungen verlangt. Im geschichtlichen Rückblick fällt auf, wie sehr die Umweltpolitik durch numerische Kommunikationen geprägt ist. Ohne Quantifizierung, so die leitende These, hätte es niemals zu dem politisch verhandelbaren Gegenstand „Umwelt“ kommen können, der heute die Schlagzeilen dominiert. Der erste Teil handelt von der Epochenwende um 1970, die für die Konstitution des politischen Problemfelds der Weltumwelt bedeutsam gewesen zu sein scheint. Der zweite Abschnitt greift historisch weiter zurück, um die Genealogie von weltumweltpolitischen Institutionen und Akteuren zu skizzieren. Im letzten Abschnitt wird versuchsweise bestimmt, in welchem Verhältnis die Quantifizierung der Umwelt zu dem Vorgang ihrer Ökonomisierung steht. Dieser Zusammenhang scheint heute so fraglos plausibel, dass beide Prozesse analytisch oft in eins gesetzt werden. Sie haben aber historisch unterschiedliche Taktungen und ihre Verbindung musste aktiv geschaffen werden.
Schlüsselwörter: Numerische Kommunikation · Umweltpolitik · Internationale Organisationen · Weltgesellschaft · Geschichte des ökonomischen Denkens
Die Moral des Vermessens
Martin Petzke
KZfSS 73, 2021: 277-299 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der Beitrag beleuchtet das Zusammenspiel von Klassifizieren, Vergleichen, Vermessen und Bewerten im statistischen Integrationsmonitoring, ein amtliches Beobachtungsinstrument zur Einschätzung der Integrationsfortschritte der Migrantenbevölkerung. Der Artikel zeigt auf, dass die Logiken der Klassifikation, des Vergleichs und der vermessenden Operationalisierung in jeweils spezifischer Weise unbeabsichtigte Assoziationen moralischen Bewertens suggerieren. Sie tun dies im Zusammenspiel mit kognitionspsychologischen Dispositionen, institutionellen Logiken statistischer und integrationspolitischer Ressorts, einem durchgreifenden Zeitgeist der Ratings und Rankings sowie einem moralisch „dichten“ Integrationsbegriff. Der Artikel verbindet hier Einsichten aus den Science and Technology Studies mit den Literaturen zur statistischen Konstruktion von Ethnizität sowie der jüngeren Soziologie der Moral.
Schlüsselwörter: Quantifizierung · Integration · Soziologie der Moral · Staat und Gesellschaft · Unintendierte Folgen absichtsvollen Handelns
Serielle Vergleiche: Zum Unterschied, den Wiederholung macht
Leopold Ringel · Tobias Werron
KZfSS 73, 2021: 301-331 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Wie entstehen und welche Wirkung entfalten Vergleichs- und Bewertungspraktiken, die Serien bilden, indem sie bestimmte Vergleichsereignisse regelmäßig wiederholen? Der Beitrag entwickelt diese Frage theoretisch und untersucht sie empirisch anhand der Geschichte von Kunst- und Hochschulrankings. Die konzeptionelle Analyse lenkt den Blick auf das „Wie“ des Vergleichens (performative Dimension) und betont, dass wiederholt und regelmäßig durchgeführte Vergleiche (serielle Vergleiche) neue Möglichkeiten erschließen, zeitliche Unterschiede festzustellen (temporales Vergleichen) sowie diese interpretativ miteinander zu verknüpfen (temporalisierendes Vergleichen). Die historische Analyse zeigt, wie sich diese Dimensionen der Zeitlichkeit von Vergleichen in der Entstehung der heutigen Kunst- und Hochschulrankings gegenseitig ermöglicht und stabilisiert haben. Dabei wird einerseits deutlich, dass ein Fokus auf Wiederholungs- und Regelmäßigkeitsmuster den Blick auf heute prominente Vergleichs- und Bewertungspraktiken grundlegend neu ausrichten kann. Zugleich zeigen sich bedeutende gesellschaftstheoretische Implikationen der Vergleichs- und Bewertungsforschung, etwa mit Blick auf die historische Ausdifferenzierung von Feldern.
Schlüsselwörter: Unpaid work · Gender division of labour · Cross-national comparison · Multilevel analysis · Review
Organisation und Algorithmus
Stefanie Büchner · Henrik Dosdall
KZfSS 73, 2021: 333-357 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag analysiert, wie Organisationen Algorithmen, die wir als digitale Beobachtungsformate verstehen, mit Handlungsfähigkeit ausstatten und damit actionable machen. Das zentrale Argument lautet, dass die soziale Relevanz digitaler Beobachtungsformate sich daraus ergibt, dass und wie sie in organisationale Entscheidungsarchitekturen eingebettet sind. Diesen Zusammenhang illustrieren wir am Beispiel des österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS), der 2018 einen Algorithmus einführte, um die Integrationschancen arbeitsuchender Personen zu bewerten. Der AMS steht dabei stellvertretend für aktuelle Bestrebungen vieler Organisationen, algorithmische Systeme einzusetzen, um knappe öffentliche Ressourcen vermeintlich effizienter zu distribuieren. Um zu rekonstruieren, wie dies geschieht, zeigen wir, welche Operationen des Kategorisierens, Vergleichens und Bewertens das algorithmische Modell vollzieht. Darauf aufbauend demonstrieren wir, wie das algorithmische Modell in die organisationale Entscheidungsarchitektur eingebunden ist. Erst durch diese Einbindung – die Möglichkeit, Unterschiede für andere, relativ stabil erzeugte Entscheidungen zu machen – entfaltet das digitale Beobachtungsformat soziale Relevanz. Abschließend argumentieren wir, dass algorithmische Modelle, wie sie am Fall des AMS beobachtet werden können, dazu tendieren, sich in Organisationen zu stabilisieren. Dies begründen wir damit, dass die organisationalen Lernchancen im Umgang mit dem Algorithmus dadurch reduziert sind, dass dieser in einem Bereich zum Einsatz kommt, der durch Technologiedefizit und koproduktive Leistungserstellung geprägt ist.
Schlüsselwörter: Digitalisierung · Öffentliche Organisationen · Algorithmen · Organisationales Lernem · Digitale Beobachtungsformate
Überwachung durch Big Data – Das Beispiel der Polizei
Sarah Brayne
KZfSS 73, 2021: 359-395 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der Beitrag beschäftigt sich mit der Schnittstelle von zwei strukturellen Entwicklungen: der zunehmenden Überwachung und dem Aufkommen von Big Data. Gestützt auf ethnografische Beobachtungen und Interviews innerhalb der Polizeibehörde von Los Angeles analysiere ich, wie der Einsatz von Big-Data-Techniken die polizeiliche Überwachung verändert, und zeige, dass sie sowohl zu einer Erweiterung wie auch zu einer grundlegenden Transformation früher Überwachungspraktiken führen. Erstens werden Risikoeinschätzungen, die früher dem Ermessen der Einzelnen überlassen waren, durch die Verwendung von Risikoscores ergänzt und quantifiziert. Zweitens haben Daten heute vor allem eine prädiktive Funktion, während sie früher eher reaktiv oder zu erklärenden Zwecken eingesetzt wurden. Drittens ermöglicht die Verbreitung automatischer Alarmmeldesysteme, sehr viel mehr Menschen zu überwachen. Viertens ist die Schwelle dafür niedriger geworden, auch Personen, die bisher noch keinen direkten Polizeikontakt hatten, in die Datenbanken der Strafverfolgungsbehörden aufzunehmen. Fünftens werden zuvor getrennte Datenbanken zusammengeführt, mit der Folge, dass sich Überwachung in vielen anderen Institutionen ausbreitet. Ausgehend von diesen Befunden entwickle ich ein theoretisches Modell der Überwachung durch Big Data, das auch auf Institutionen außerhalb des Strafrechtssystems anwendbar ist. Zum Schluss beschreibe ich, wie sich die Überwachung durch Big Data auf das Rechtssystem und die soziale Ungleichheit auswirkt.
Schlüsselwörter: Prädiktive Algorithmen · Soziale Ungleichheit · Kriminalität · Recht · Ethnografie
Die Ordnung der Empfehlung
Markus Unternährer
KZfSS 73, 2021: 397-423 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Empfehlungssysteme sind Ordnungstechnologien des Digitalen. Sie bestimmen, welche Filme, Songs oder Artikel uns in welcher Reihenfolge angezeigt werden. Oftmals scheinen Empfehlungen zu personalisieren: „Ich sehe etwas ganz anderes als du.“ Der Artikel zeigt, dass auf der algorithmischen Hinterbühne gerade nicht singularisiert, sondern relationiert wird. Ich beschreibe vier Typen von Empfehlungssystemen, die Nutzerinnen von Webseiten, Streamingdiensten oder Apps auf unterschiedliche Weisen mit anderen Nutzerinnen und Dingen (Filme, Songs, Artikel etc.) in Beziehung setzen. Popularitätsmetriken unterstellen eine pauschale Relevanz für alle; stereotypisierende Verfahren beruhen auf kategorialer Relationierung; inhaltsbasierte Verfahren und Collaborative Filtering relationieren Nutzerinnen und Dinge über Matchings, eine spezifische Variante des Vergleichs, die die paarweisen (Ähnlichkeits‑)Relationen von Nutzerinnen und Dingen vergleichen. In der digitalen Ökonomie dienen Empfehlungssysteme dazu, „good matches“ zwischen Unternehmen, Nutzerinnen, Dingen (und Dritten) zu generieren.
Schlüsselwörter: Personalisierung · Vergleich · Kategorisierung · Bewertung · Digitale Ökonomie
Digitalisierte intime Bewertung
Thorsten Peetz
KZfSS 73, 2021: 425-450 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Intime Bewertung ist ein zentrales Moment der Paarbildung. Da immer mehr Menschen sich online kennenlernen, stellt sich die Frage, welche Konsequenzen Digitalisierung, verstanden als eine spezifische Form infrastrukturellen Wandels, in intimen Bewertungskonstellationen zeitigt. Am Beispiel von Tinder, einer weit verbreiteten Dating-App, zeigt der Artikel, dass digital vermittelte Paarbildung spezifische Formen der Beobachtung von potenziellen Intimpartnerinnen ermöglicht. Algorithmen beobachten die Datenden, vergleichen und kategorisieren sie als „ähnlich“ und kalkulieren Begehrenswürdigkeit auf der Grundlage der Beobachtung ihres Bewertungsverhaltens. Die Nutzerinnen selbst haben aber nur eingeschränkte Möglichkeiten, Bewertungsobjekte zu vergleichen und selbst auch keinen Zugang zu den Resultaten der algorithmischen Zahlenproduktion. Man kann deshalb nicht vorbehaltlos davon sprechen, dass über Onlinedating Kommensurierung, Quantifizierung und datenbasierte Selbstoptimierung Einzug in Paarbildungspraktiken halten.
Schlüsselwörter: Bewertungskonstellationen · Vergleiche · Kategorisierung · Dating-Apps · Digitalisierung
Von Performativität zu Generativität: Bewertung und ihre Folgen im Kontext der Digitalisierung
Andrea Mennicken · Martin Kornberger
KZfSS 73, 2021: 451-478 (Sonderheft)
Zusammenfassung: In diesem Beitrag gehen wir zwei Fragen nach. Erstens, inwiefern kann ein Fokus auf Praktiken der Bewertung zur Klärung des Zusammenhangs zwischen Vergleich, Kategorisierung und Quantifizierung beitragen? Und zweitens, inwieweit verhilft er dazu, die Voraussetzungen und Folgen neuer digitaler Formate, wie etwa Vergleichsportale, Empfehlungssysteme oder Screening- und Scoring-Verfahren, besser zu verstehen? Im Gegensatz zur Auffassung, dass Wert im Bewusstsein des Subjekts (als Präferenz) existiert oder eine objektive Eigenschaft eines Gutes ist, argumentieren wir, dass ein Gut erst durch Bewertungspraktiken und -technologien wie Ratings, Rankings und andere evaluative Infrastrukturen als wertvoll oder als nicht wertvoll bestimmt wird. Wir entwickeln einen analytischen Rahmen für die Untersuchung interaktiver, digitalisierter Bewertungstechnologien und schlagen vor, dass sich solche Technologien besser analysieren und verstehen lassen, wenn wir den Fokus auf drei Elemente legen: erstens auf evaluative Infrastrukturen, verstanden als Bewertungsregime – und nicht als einzelne Bewertungsinstrumente, zweitens auf das Protokoll als ein evaluativen Infrastrukturen eigenes Machtinstrument, wobei Macht in diesem Fall paradoxerweise (und im Unterschied zum Disziplinarregime) zugleich verteilt und konzentriert ist, und drittens auf das generative (statt nur performative) Potenzial solcher digitalisierter Bewertungsregime, also deren Fähigkeit, neue Werte und Kategorisierungen mittels evaluativer Infrastrukturen zu produzieren.
Schlüsselwörter: Evaluative Infrastrukturen · Digitalisierte Bewertung · Kommensurierung · Macht · Pragmatismus