Zusammenfassungen und Abstracts
Zusammenfassungen und Abstracts des laufenden Jahres:
Heft 4 - 2022
Social Networks and Educational Decisions: Who has Access to Social Capital and for Whom is it Beneficial?
Sven Lenkewitz · Mark Wittek
KZfSS 74, 2022: 437-472
Abstract: This article investigates students’ access to social capital and its role in their educational decisions in the stratified German school system. We measure social capital as the availability of highly educated adults in adolescents’ and parents’ social networks. Using panel data on complete friendship as well as parental networks and the educational decisions of more than 2700 students from the CILS4EU-DE dataset, we show that social networks are segregated along socio-economic differences, which restricts access to social capital for socio-economically disadvantaged students. A comparison shows that parental networks tend to be substantially more segregated than children’s friendship networks. In addition, our results indicate that access to social capital is linked to academically ambitious choices—i.e., entering upper secondary school or enrolling in university. This relationship is especially pronounced for less privileged students.
Keywords: Educational inequality · Educational stratification · Parental networks · Academically ambitious decisions · Exponential random graph model
The Change of Motives to Become and to be a Party Member. An Empirical Analysis of the German Party Membership Studies 1998, 2009 and 2017
Yvonne Lüdecke · Markus Klein · Frederik Springer · Philipp Bernhold · Lisa Czeczinski · Bastian Schmidt
KZfSS 74, 2022: 473-498
Abstract: In this paper, the thesis is put forward that selective outcome incentives for party membership gain relevance over time. Two possible mechanisms are identified as the cause of this increase in importance: a supply-side mechanism based on processes of societal change that took place through generational succession and a demand-side mechanism focusing on shifts in the self-image and organizational structure of political parties. The supply-side mechanism should lead to changes in the motives of potential members, whereas the demand-side mechanism alters the incentives potential and current members are exposed to. The empirical analyses are based on the German Party Membership Studies of 1998, 2009 and 2017. These three studies are nationwide representative surveys of the members of the following six parties: Christian Democratic Union (CDU), Christian Social Union (CSU), Social Democratic Party of Germany (SPD), Free Democratic Party (FDP), Alliance90/The Greens (Bündnis90/Die Grünen), and The Left (Die Linke). Within the German Party Membership Studies, both the motives for joining the party and the current membership motives are surveyed. Empirically, it is shown that there is indeed an increase in the importance of selective outcome membership motives over the period under study. The mechanisms behind this increase in importance are investigated using multivariate Age-Period-Cohort (APC) models based on the cumulated data of the German Party Membership Studies. These analyses are based on a total of nearly 30,000 cases. The results of the APC analyses are largely consistent with the supply-side explanation of the increased importance of selective outcome motives for party entry and membership. The demand-side explanation is only partially confirmed.
Keywords: General Incentives Model · APC analysis · Political ambition · Selective outcome incentives · Candidate recruitment
Positive Ethnic Choice Effects are Persistent Over Time but not Across Minority Generations: Evidence from Switzerland
Richard Nennstiel
KZfSS 74, 2021: 499-524
Abstract: Many empirical studies have demonstrated positive ethnic choice effects at the transition to upper secondary education. This means that ethnic minority students—given the same academic performance, parental resources and type of school at lower secondary level—aspire to more demanding educational programs than ethnic majority students. Previous research has often examined only single cohorts of school-leavers and has rarely considered differences between ethnic minority generations. Therefore, little is known about the extent to which these positive ethnic choice effects vary over time and across minority generations. The aim of this paper is to fill this gap using large-scale survey data from Switzerland (2000–2016; N = 100,495). Using multilevel analyses, I am able to show that positive ethnic choice effects are persistent over time in Switzerland. Furthermore, it becomes clear that positive ethnic choice effects vary across ethnic minority generations, with these effects decreasing with each succeeding minority generation. Ethnic minority students with one parent born in Switzerland hardly differ from ethnic majority students in their educational decisions.
Keywords: School-to-work transitions · Educational decisions · Educational inequalities · Migration background · Post-compulsory education
Heft 3 - 2022
Karriere mit Kind – Wie wirkt sich frühe Mutterschaft auf das Erreichen von Führungspositionen bei Akademikerinnen aus?
Gesche Brandt · Heike Spangenberg
KZfSS 74, 2022: 303-327
Zusammenfassung: Dieser Beitrag widmet sich im Anschluss an die Diskussion zur Entzerrung der „Rushhour des Lebens“ der Frage, ob es vorteilhaft für die berufliche Karriere von Akademikerinnen ist, wenn sie, anstatt nach dem Berufseinstieg, bereits vor dem Studienabschluss oder direkt im Anschluss daran Kinder bekommen. Während ein Aufschieben der Erstgeburt verschiedenen Studien zufolge durchaus positiv für den Karriereverlauf ist, ist der Zusammenhang zwischen einer frühen Familiengründung und dem Erreichen einer Führungsposition für Deutschland bislang kaum erforscht. Anhand von Absolventendaten des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) wird mit logistischen Regressionsanalysen untersucht, wie wahrscheinlich das Erreichen einer Führungsposition für Mütter mit akademischem Abschluss in Abhängigkeit vom Geburtentiming ist. Die Befunde zeigen, dass Mütter, die bereits vor dem Berufseinstieg Kinder bekommen haben, zehn Jahre nach Studienabschluss mit höherer Wahrscheinlichkeit in Führungspositionen tätig sind als die Vergleichsgruppe der Mütter, die erst während des Erwerbsverlaufs eine Familie gegründet haben. Erstere weisen im Erwerbsverlauf weniger Vollzeitphasen, aber mehr Teilzeitphasen und weniger Unterbrechungsphasen auf. Die Ergebnisse stützen humankapital- und signaltheoretische Annahmen, wonach Akademikerinnen auf dem Arbeitsmarkt von einer Familiengründung vor dem Berufseinstieg profitieren, da längere Erwerbsunterbrechungen unwahrscheinlicher werden.
Schlüsselwörter: Mütter · Studium · Geburtentiming · Humankapitaltheorie · Signaltheorie
Kind – und dann? Wandel partnerschaftlicher Erwerbsverläufe drei Jahre nach dem Übergang in die Elternschaft
Nadiya Kelle · Laura Romeu Gordo · Julia Simonson
KZfSS 74, 2022: 329-351
Zusammenfassung: Der Übergang in die Elternschaft markiert für viele Elternpaare den Übergang in geschlechterspezifische Erwerbsarrangements, oft unabhängig von der gelebten vorgeburtlichen Arbeitsteilung. Dabei können die Entscheidungen über die Erwerbsarrangements nach der Geburt des ersten Kindes richtungsgebend für die zukünftigen Erwerbsverläufe und Alterssicherung sein. Vor diesem Hintergrund fokussiert der Beitrag auf zwei Fragen: erstens, ob sich gerade für jüngere Elternpaare der in den 1980er-Jahren Geborenen eine Konvergenz in den Erwerbsverläufen nach dem Übergang in die Elternschaft im Vergleich zu den in den 1970er-Jahren geborenen Elternpaaren zeigt und zweitens, ob die Arbeitsteilung vor dem Übergang in die Elternschaft eine zunehmende Rolle für die Erwerbskonstellationen danach spielt. Unter Verwendung der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) werden anhand sequenz-, cluster- und regressionsanalytischer Verfahren Erwerbsverläufe von 900 Paaren über 36 Monate nach dem Übergang in die Elternschaft analysiert. Für die Kohorte der in den 1980er-Jahren Geborenen setzt sich die Bedeutungsabnahme traditioneller Erwerbsarrangements fort. Zudem gibt es immer mehr Elternpaare, in denen beide Elternteile relativ schnell nach der Geburt eines Kindes in die Erwerbstätigkeit zurückkehren. Kaum zu beobachten ist, dass Väter ihre Erwerbstätigkeit zunehmend zugunsten einer stärkeren Einbindung in Haushalts- oder Familientätigkeiten einschränken. Hingegen scheinen die Konvergenzen in den Erwerbsverläufen zwischen Müttern und Vätern vielmehr ein Resultat zunehmender Erwerbsdiskontinuitäten zu sein. Darüber hinaus hat die vorgeburtliche Arbeitsteilung auch für die jüngeren Elternpaare einen eher geringen Einfluss auf ihre nachgeburtlichen Erwerbskonstellationen. Die Ergebnisse legen nahe, dass der Abbau von geschlechterspezifischen Ungleichheiten am Arbeitsmarkt verstärkt voranzutreiben ist, damit weitere Anreize für die gleichmäßigere Erwerbsaufteilung im Paarkontext entstehen können.
Schlüsselwörter: Geburt des ersten Kindes · Elternpaare · Erwerbsarrangements · Kohortenvergleich · Sequenzmusteranalyse
Von den „frustrierten akademischen Plebejern“ zum gesellschaftlichen „Patriziat“
Markus Klein
KZfSS 74, 2022: 353-380
Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht die Entwicklung der Wählerschaft von Bündnis90/Die Grünen seit der Gründung der Partei. Die Datengrundlage bilden die kumulierten ALLBUS-Erhebungen der Jahre 1980–2018. Über den Untersuchungszeitraum hinweg zeigt sich für Westdeutschland ein steigender Trend in der Unterstützung von Bündnis90/Die Grünen. Mittels einer hierarchischen Alter-Perioden-Kohorten-Analyse mit fixen Kohorteneffekten (HAPK-FC) wird gezeigt, dass die Unterstützung für Bündnis90/Die Grünen in der Generationenfolge zunimmt. Lebenszykluseffekte existieren hingegen nicht. Darüber hinaus lässt sich ein positiver Effekt der Zugehörigkeit zur sozialen und kulturellen Dienstklasse auf die Wahl der Grünen nachweisen. In abgeschwächter Form zeigen sich diese Befunde auch in Ostdeutschland.
Schlüsselwörter: APK-Analyse · Alterseffekte · Generationseffekte · Periodeneffekte · Wahlverhalten
Heft 2 - 2022
Innovationskrise im staatlichen Theatersektor? Eine Längsschnitt-Analyse für Theater in Nordrhein-Westfalen, 1995–2018
Maria Glasow · Thomas Heinze
KZfSS 74, 2022: 203-232
Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag untersucht die kulturelle Innovationstätigkeit staatlicher deutscher Theater am Beispiel des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (NRW). Während bisherige Diagnosen, einschließlich die sozialstrukturell geprägte Publikumsforschung, die Nachfrageseite in den Mittelpunkt stellen und dabei vor allem den stetigen Rückgang und die Alterung des Publikums diagnostizieren, geht unsere Analyse auf die Angebotsseite ein, insbesondere die Zahl von Ur- und Erstaufführungen und ihre Übernahme ins Repertoire. Der Beitrag zeigt, dass die bisherigen Anstrengungen der kommunalen und landeseigenen Theater, die Anzahl der Spielstätten und der dort aufgeführten Stücke zu erhöhen, nicht ausgereicht haben, um den Rückgang des Publikums zu stabilisieren. Gleichzeitig werden nur wenige neue Stücke auf den Spielplan gesetzt, von welchen sich noch weniger langfristig im Repertoire etablieren können. Unseren Ergebnissen zufolge wird der Theatersektor seine Erneuerungsfähigkeit nur sichern können, wenn eine Verschiebung hin zu deutlich mehr neuen Stücken erfolgt, die neues Publikum anziehen. Ein für Erneuerung grundsätzlich günstiger institutioneller Kontext ist der dezentrale Wettbewerb, der den Theatersektor in NRW prägt.
Schlüsselwörter: Kultursoziologie · Uraufführung · Spielplan · Kulturorganisationen · Organisationsfeld
„Evaluative Diskriminierung“: Arbeitsbewertung als blinder Fleck in der Analyse des Gender Pay Gaps
Ute Klammer · Christina Klenner · Sarah Lillemeier · Tom Heilmann
KZfSS 74, 2022: 233-258
Zusammenfassung: Frauen verdienen in Deutschland durchschnittlich 18 % weniger pro Stunde als Männer. Vertikale und horizontale Segregationslinien, Unterschiede im Beschäftigungsumfang sowie in den Erwerbsverläufen von Frauen und Männern sind als Erklärungsfaktoren dafür statistisch identifiziert worden. Bislang ist jedoch unklar, welche Bedeutung die Arbeitsbewertung für den Gender Pay Gap hat und welche Rolle evaluative Diskriminierungen in der Verdienststruktur spielen. Die in diesem Artikel vorgestellten Analysen bieten erstmals eine statistische Grundlage zur Überprüfung der Annahmen der Devaluationshypothese. Danach wird angenommen, dass die beruflichen Anforderungen und Belastungen von Frauen geringer bewertet und somit auch geringer entlohnt werden als die von Männern und somit eine geschlechterdifferente Arbeitsbewertung den Gender Pay Gap mitverursacht. Die dargestellten statistischen Ergebnisse belegen unter Anwendung des neu entwickelten Comparable Worth Index die Relevanz solcher evaluativen Diskriminierungen und zeigen, dass die geringere Bewertung und Bezahlung weiblicher gegenüber männlicher Erwerbsarbeit auch unter Kontrolle weiterer verdienstrelevanter Faktoren zentral zum Gender Pay Gap beitragen.
Schlüsselwörter: Comparable Worth · Lohnungleichheit · Frauenberufe · Berufliche Segration · Devaluationshypothese
Reducing or Widening the Gap? How the Educational Aspirations and Expectations of Turkish and Majority Families Develop During Lower Secondary Education in Germany
Sebastian Neumeyer · Melanie Olczyk · Miriam Schmaus · Gisela Will
KZfSS 74, 2022: 259-285
Abstract: Differences in educational goals between immigrants and the majority population have often been analysed at specific stages in their educational career. Little is known about longitudinal trajectories and the development of group differences over time. By applying common explanations (immigrant optimism, relative status maintenance, blocked opportunities, ethnic networks and information deficits), we derived specific hypotheses about the development of educational aspirations and expectations over time, focusing on families from Turkey. We drew upon data from the National Educational Panel Study to assess how aspirations and expectations for the highest school degree develop over the course of lower secondary education in Germany’s stratified school system. Applying a multi-actor perspective, we observed trajectories reported by students and their parents. First, we analysed the development of group differences. In line with prior research, we found higher aspirations and expectations for Turkish students and their parents at the beginning of lower secondary education in Germany once social background and achievement differences were controlled for. Origin gaps for students’ expectations and parents’ aspirations decreased over the course of lower secondary education. Second, intraindividual trajectories of aspirations and expectations revealed that parents of Turkish origin were more likely to experience downwards adaptations than majority parents, whereas students of Turkish origin were more likely to hold stable high aspirations and expectations than majority students.
Keywords: Educational ambitions · Ethnic inequality · Turkish origin · Immigrants · Trajectories
Heft 1 - 2022
Das Ansehen von Hausfrauen in Deutschland – Eine quantitativ-empirische Analyse differenzieller Wahrnehmungen
Katrin Stache · Christian Ebner · Daniela Rohrbach-Schmidt
KZfSS 74, 2022: 1-32
Zusammenfassung: Die Erwerbstätigenquote von Frauen ist in den letzten Jahrzehnten international wie auch in Deutschland merklich angestiegen, wohingegen das klassische Male Breadwinner Model zunehmend erodiert. Vor diesem Hintergrund hat die Studie zum Ziel, das gesellschaftliche Ansehen der zahlenmäßig geringer werdenden Gruppe von Hausfrauen, deren Haupttätigkeit in der Haus- und Familienarbeit liegt, mit aktuellen Befragungsdaten zu untersuchen. Die Analysen gehen zum einen der Frage nach, wie hoch das Ansehen generell von der Bevölkerung in Deutschland eingestuft wird und zum anderen, ob sich die Wahrnehmungen anhand von ausgewählten soziodemografischen Merkmalen systematisch unterscheiden. Die empirischen Befunde zeigen, dass das Ansehen von Hausfrauen in Deutschland im Allgemeinen höher eingeschätzt wird als das von Arbeitslosen sowie von Helfertätigkeiten, aber auch geringer als das Ansehen von beruflichen Tätigkeiten auf Fachkräfteniveau. Darüber hinaus variieren die Beurteilungen zum Hausfrauenprestige signifikant danach, welcher sozialen Gruppe (Geburtskohorte, Ausbildungsniveau, Erwerbsbeteiligung, Geschlecht) die Befragten angehören. Weiterführende Analysen von Interaktionseffekten verdeutlichen ferner ein differenziertes Zusammenspiel der Variable Geschlecht mit anderen Gruppenmerkmalen. Der Beitrag schließt mit einer ausführlichen Diskussion der Ergebnisse sowie einem Ausblick auf zukünftige Forschung.
Schlüsselwörter: Prestige · Nichterwerbstätigkeit · Soziale Ungleichheit · Reproduktionsarbeit · Hausarbeit
(K)eine immunisierende Wirkung? Eine binnendifferenzierte Analyse zum Zusammenhang zwischen christlicher Religiosität und der Wahl rechtspopulistischer Parteien
Jan-Philip Steinmann
KZfSS 74, 2022: 33-64
Zusammenfassung: Der Beitrag greift die in der bisherigen Forschung verbreitete Immunisierungshypothese auf, nach der christliche Religiosität vor der Wahl rechtspopulistischer Parteien schützt, und entwickelt eine alternative Lesart für diesen Zusammenhang. Dazu wird auf Basis der „German Longitudinal Election Study“ (GLES) von 2015 und 2017 und der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) von 2018 eine Binnendifferenzierung der christlichen Wählerschaft vorgenommen. Im Mittelpunkt stehen nicht gängige Dimensionen von Religiosität, sondern der Religionsanspruch der Christen. Es wird vermutet, dass christliche Wähler mit exklusivem Religionsanspruch im Vergleich zu denjenigen mit inklusivem Religionsanspruch häufiger rechtspopulistischen Parteien ihre Stimme geben und dass dafür die ausgeprägteren rechtspopulistischen Positionen von Christen mit exklusivem Religionsanspruch verantwortlich zeichnen. Theoretisch begründet werden diese Annahmen in vier Schritten. Erstens wird eine wahrgenommene Bedrohung unter der christlichen Wählerschaft mit exklusivem Religionsanspruch diagnostiziert. Zweitens werden Mobilisierungsargumente rechtspopulistischer Parteien identifiziert, die eine Antwort auf diese Bedrohungswahrnehmung geben können. Drittens werden Wechselwirkungen zwischen religiösen und politischen Weltanschauungen erläutert, die nahelegen, dass ein exklusiver Religionsanspruch und rechtspopulistische Positionen über die Funktion der Nomisierung verbunden sind. Zuletzt kann die Übersetzung rechtspopulistischer Positionen in die Wahl rechtspopulistischer Parteien plausibilisiert werden. Empirisch lassen sich sowohl Belege für den Zusammenhang von Religionsanspruch und der Wahl rechtspopulistischer Parteien als auch die vermittelnde Wirkung rechtspopulistischer Positionen finden. Damit zeigt sich, dass Religiosität bei Vorliegen eines inklusiven Religionsanspruchs immunisierend, aber im Falle eines exklusiven Religionsanspruchs eben auch katalysierend auf die Wahl rechtspopulistischer Parteien wirken kann. Dies deutet auf eine Verschiebung relevanter Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft hin.
Schlüsselwörter: Religion · Rechtspopulismus · Alternative für Deutschland (AfD) · German Longitudinal Election Study (GLES) · Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS)
The Role of the Social Environment in the Relationship Between Group-Focused Enmity Towards Social Minorities and Politically Motivated Crime
Yvonne Krieg
KZfSS 74, 2022: 65-94
Abstract: Politically motivated crime against a person is characterised by the fact that the victims are interchangeable in the sense that individuals are seen as representatives of their social or ethnic group. The current study examines whether the existence of group-focused enmity (GFE) is linked to the perpetration of discriminatory behaviour, in the form of politically motivated crime, which is considered a classic example of the attitude–behaviour relationship. Although various survey studies show connections between group-focused enmity towards social minorities and discriminatory behavioural intentions, there is less knowledge available on whether attitudes can also be regarded as potential risk factors for actual behaviour. The role of the social environment in this relationship, as well as how the attitudes of the social environment are related to the perpetration of politically motivated crime, regardless of personal group-focused enmity, are further analysed. Using a representative student sample from the year 2018 (N = 2824), results show that anti-immigrant, anti-gay, ableist and anti-homeless attitudes are potential risk factors for the perpetration of politically motivated crime against these social minority groups, even after controlling for various other correlates of politically motivated crime. Group-focused enmity has an even greater effect when the student has a like-minded friendship group. Moreover, if the adolescent’s friendship group (hypothetically) approves of such discriminatory behaviour, the likelihood of acting in a politically violent manner is increased, even for adolescents who do not support group-focused enmity.
Keywords: Right-wing extremism · Attitude · Behaviour · Discrimination · Social context
Sonderheft - 2022
Plattform-Architekturen
Ulrich Dolata · Jan-Felix Schrape
KZfSS 74, 2022: 11-34 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Das heutige Internet wird durch privatwirtschaftlich betriebene Plattformen der unterschiedlichsten Art geprägt. Dieser Beitrag fragt danach, wie sich die kommerziellen Kommunikations‑, Markt‑, Konsum- und Serviceplattformen als distinkte Unternehmensform fassen lassen. Dazu wird eine basale Unterscheidung zwischen (1) den plattformbetreibenden Unternehmen als organisierenden und strukturierenden Kernen und (2) den ihnen gehörenden Plattformen als mehr oder minder ausgreifenden sozialen Handlungsräumen vorgenommen. Während sich Plattformunternehmen als Organisationen im geradezu klassischen Sinne darstellen lassen, konstituieren die von ihnen betriebenen Internetplattformen soziotechnisch strukturierte Sozial‑, Markt‑, Konsum- oder Serviceräume, in denen soziale Akteure zwar auf der Grundlage detailliert ausgestalteter und technisch eingefasster Regeln, aber zugleich variantenreich und eigenwillig interagieren. Die für die Plattform-Architekturen charakteristischen Koordinations‑, Kontroll- und Verwertungsmechanismen zeichnen sich durch eine starke hierarchische Ausrichtung aus, in die Elemente der Kooptation und des orchestrierten Mitwirkens der Nutzer eingelagert sind. Die Plattformunternehmen haben in dieser hybriden Konstellation ein hohes Maß an strukturgebender, regelsetzender und kontrollierender Macht – und verfügen überdies über den exklusiven Zugriff auf das dort produzierte Rohmaterial an Daten. Diese Macht äußert sich auch, aber längst nicht ausschließlich als rigide Kontrolle, als direktiver Zwang oder einklagbare Rechenschaftspflicht, sondern entfaltet sich für die große Zahl regelkonformer Nutzer weitgehend geräuschlos unter der Oberfläche einer (vermeintlichen) Offenheit, die die Plattformen als Markt- und Sozialräume auch auszeichnet.
Schlüsselwörter: Internetplattformen · Plattformunternehmen · Plattformökonomie · Handlungsräume · Koordination · Kommodifizierung · Kuratierung
Netzwerke, Plattformen und Ökosysteme: Organisationstheoretische Klärungen
Jörg Sydow · Carolin Auschra
KZfSS 74, 2022: 35-57 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung gewinnen interorganisationale Netzwerke, Plattformen und Ökosysteme zunehmend an Bedeutung. Jedoch bleibt oft unklar, was mit diesen Konzepten gemeint ist und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Dieser Beitrag hat daher das Ziel, diese Konzepte genauer zu fassen und die jeweiligen Verhältnisse zueinander zu klären. Dies geschieht mithilfe der in der Organisationsforschung prominenten Praxis- und Institutionentheorie. Anhand der Dimensionen theoretische Wurzeln, zentrale Analyseebenen, Ziele, Governance/Steuerung, Dynamiken und Grenzen, Kooperation und Wettbewerb sowie Offenheit/Selektion von Mitgliedern werden die einzelnen Phänomene voneinander abgrenzt. Zudem werden die dyadischen und das triadische Verhältnis zueinander diskutiert und weitere Forschungsperspektiven aufgezeigt.
Schlüsselwörter: Feld · Praktiken · Interorganisationale Beziehungen · Praxistheorie · Kooperation
Ungleicher Gabentausch – User-Interaktionen und Wertschöpfung auf digitalen Plattformen
Oliver Nachtwey · Simon Schaupp
KZfSS 74, 2022: 59-80 (Sonderheft)
Zusammenfassung: In diesem Artikel schlagen wir einen relationalen Ansatz zum Verständnis der Wertschöpfung auf digitalen Plattformen wie Social-Media-Kanälen oder kostenlosen Internetdienstleistungen vor. Dabei kombinieren wir Ansätze der Marx’schen und anthropologischen Werttheorie in innovativer Weise und machen sie für ein Verständnis der digitalen Ökonomie fruchtbar. Demnach handelt es sich bei den Interaktionen der Plattform-User nicht, wie verschiedentlich argumentiert wird, um ausgebeutete Arbeit, sondern um Praktiken des Gabentauschs. Dieser Gabentausch bildet die Produktionsbedingung für die Wertschöpfung der Internetplattformen, die durch deren asymmetrisches Interaktionsfeld kontinuierlich reproduziert werden. Es wird deshalb auch nicht das Individuum ausgebeutet, sondern die Gemeinschaft derjenigen, die in diesem Feld handeln. Dies ist in den Geschäftsbedingungen der Plattformen verankert, die festlegen, dass die User ihre Daten nicht nur untereinander, sondern auch an das Unternehmen weitergeben. Dies wiederum ermöglicht einen dreischrittigen Prozess der Kommodifizierung der Daten aufseiten der Plattform. Erstens werden die Daten als Gebrauchswerte von den Plattformen zur Optimierung ihrer eigenen Dienstleistungen angeeignet. Zweitens kommt es zu einer sekundären Kommodifizierung, die im Gegensatz zu anderen Wertschöpfungsprozessen vom Gebrauchswert der Daten abgekoppelt ist. Drittens kommt es zu einer Kybernetisierung, bei der die Beeinflussbarkeit der User an Dritte als Ware verkauft wird.
Schlüsselwörter: Internetdienstleistungen · Plattformökonomie · Prosumer · Werttheorie · Wirtschaftssoziologie
Online-Arbeitsmärkte im Spannungsfeld von Plattform und Community
Markus Hertwig · Christian Papsdorf
KZfSS 74, 2022: 81-107 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der Beitrag widmet sich im Rahmen eines Systematic Literature Reviews sowie einer qualitativen Inhaltsanalyse der Untersuchung von Online-Arbeitsmärkten und der dort vermittelten Arbeit. Vor dem Hintergrund einer unübersichtlichen Literaturlage besteht das Ziel in der Analyse und Systematisierung der Besonderheiten von Plattformarbeit. Dafür werden 235 zwischen 2010 und 2020 erschienene thematisch relevante Publikationen daraufhin untersucht, (1) welche Disziplinen mit welchen Methoden in welchen Kontexten plattformbasierte Arbeit erforschen; (2) welche Dimensionen von Arbeit sie thematisieren; (3) welche Akteurinnen und Akteure und Institutionen Arbeit prägen; und (4) auf welche Art und Weise sie dies tun. Der Beitrag analysiert den Stand der Forschung zu den Einflussfaktoren plattformbasierter Arbeit und identifiziert Forschungsdesiderata. Zudem bietet er eine Heuristik an, die die oftmals kleinteiligen Forschungsergebnisse systematisiert und aufeinander bezieht. Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem Plattformen (als technische und organisatorische Systeme), Kundinnen und Kunden sowie die Community der Tätigen als neuartige Prägekräfte verschiedene Aspekte von Arbeit maßgeblich beeinflussen.
Schlüsselwörter: Plattformökonomie · Online-Arbeitsmärkte · Digitale Arbeit · Community
Moving Beyond Uber
Stefan Kirchner · Nele Dittmar · Emilia Sophie Ziegler
KZfSS 74, 2022: 109-131 (Sonderheft)
Abstract: Discussions on organizational models and work in the platform economy often center on Uber as a prominent example of a digital marketplace that relies on venture capital and gig labor from self-employed drivers. This focus on Uber underestimates the diversity of organizational models and work types that likely arise from struggles between firms seeking to dominate emerging fields. Our exploratory results coming out of the field of “shared mobility” in Germany show that the platform economy harbors two modes: a few digital marketplaces with gig labor and many app-enabled firms that build on smartphones to operate their mobility services with employees that perform app-enabled labor. In addition, some firms that rely on venture capital face several firms financed by incumbents from adjacent fields—in particular, car manufacturing. Overall, we find an absorption of platform technology by incumbents alongside disruption induced by start-ups. We conclude that German shared mobility comprises a diversity of organizational models and work types beyond the Uber model, the mapping of which helps toward a better understanding of the platform economy.
Schlüsselwörter: Mobilität Dienstleistung · Organisationale Modelle · Märkte als Felder · Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen · Plattformkapitalismus
Plattformen auf dem Arbeitsmarkt: Digitalisierung und Diversifizierung in der Beschäftigungsindustrie
Hans J. Pongratz
KZfSS 74, 2022: 133-157 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Vermittlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt verlaufen zunehmend unter Mitwirkung von Plattformunternehmen: Online-Stellenbörsen, Karrierenetzwerken, Gigwork- und Crowdworking-Plattformen oder Arbeitgeberbewertungsportalen. Auf der Basis explorativer Internetrecherchen und Dokumentanalysen wird ein Überblick über die Plattformmodelle und ihre Verbindungen zu etablierten Akteuren der Beschäftigungsindustrie, vor allem Zeitarbeitsfirmen und Personalberatungen, gegeben. Mit Bezug auf Theoriekonzepte der Plattformforschung und der Arbeitsmarktanalyse (Infrastruktur, Intermediarität, Ökosystem, Feld) werden Thesen zur Rolle der Plattformen innerhalb der Beschäftigungsindustrie formuliert. In Anbetracht etablierter Strukturen und spezifischer Anforderungen des Arbeitsmarkts finden sich Plattformen in diesem Feld in komplexen Akteurskonstellationen wieder, die sie nicht in der Weise dominieren, wie das von Plattformkonzernen wie Amazon, Facebook oder Google angenommen wird. Privatwirtschaftliche Dienstleistungen der Arbeitskraftvermittlung gewinnen erheblich an Relevanz: Neben der Verfügung über die Daten stellen vor allem das Expertenwissen der Personalberatungen und der politische Einfluss der Zeitarbeitsfirmen maßgebliche Machtressourcen am Markt dar. Die Analyse lässt auf multiple Entwicklungspfade der Plattformökonomie schließen – und auf die Notwendigkeit stärker vergleichender Forschung.
Schlüsselwörter: Personalrekrutierung · Intermediäre · Plattformökonomie · Zeitarbeitsfirmen · Feldtheorie
Journalismus und Plattformen als vermittelnde Dritte in der digitalen Öffentlichkeit
Hannah Bennani · Marion Müller
KZfSS 74, 2022: 159-181 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der digitale Wandel hat öffentliche Beobachtungs- und Beeinflussungsbeziehungen grundlegend verändert. In den traditionellen Massenmedien vermittelt der professionelle Journalismus zwischen Quellen und Publikum und trifft alleine Publikationsentscheidungen. Im Internet wird dieses Gatekeeper-Paradigma teilweise durch ein auf Plattformen gestütztes Netzwerk-Paradigma ersetzt, in dem Konstellationen vielfältiger, dynamischer und häufig auch unvermittelt sind. Diskutiert wird die Rolle vermittelnder Dritter in Akteurskonstellationen sowie in intra- und intersystemischen Beziehungen. Dabei wird in zweifacher Weise an Georg Simmel angeknüpft: Soziale Formen oder Interaktionsmodi helfen, die Dynamik zwischen Akteuren zu systematisieren. Zudem wurde Simmels Hinweis auf den vermittelnden Dritten aufgegriffen. Im Netzwerk-Paradigma umfasst die Vermittlung neben der Nachrichtenversorgung zusätzlich Moderation und Navigation. Zahlreiche Krisensymptome der digitalen Öffentlichkeit werfen die Frage nach dem Reformbedarf für Journalismus und Plattformen auf.
Schlüsselwörter: Interaktionsmodi · Funktionale Differenzierung · Digitalisierung · Moderation · Navigation · Gatekeeper
Transformation der politischen Öffentlichkeit? Der Einfluss von Plattformen auf das gesellschaftliche Vermittlungssystem
Ottfried Jarren · Renate Fischer
KZfSS 74, 2022: 183-207 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Journalismus und publizistische Medien haben lange Zeit Öffentlichkeit hergestellt, waren ein wesentlicher Teil der Kommunikationsinfrastruktur. Mit dem Aufkommen von Online-Plattformen hat sich ein hybrides Mediensystem etabliert. Plattformen haben sich zu einem relevanten Machtfaktor in der (politischen) Öffentlichkeit entwickelt und einen Transformationsprozess im publizistischen Mediensystem ausgelöst. Der Beitrag zeigt, wie publizistische Medien und Journalismus Öffentlichkeit institutionalisiert haben und wie Plattformen die Akteurskonstellation und die kommunikative Infrastruktur verändern. Der Transformationsprozess führt zu Ordnungskonflikten und zum Bedeutungsverlust der publizistischen Medien, die sich den Plattformlogiken anpassen. Sind Fragmentierung, Abschottung oder miteinander konkurrierende Öffentlichkeiten die Folge? Gesellschaftliche Vermittlung kann nur gelingen, wenn relevante Themen öffentlich diskutiert werden und unterschiedliche Interessen im Meinungsbildungsprozess integriert werden. Publizistische Medien, insbesondere der Rundfunk, wurden reguliert, um diesen Meinungsbildungsprozess zu strukturieren. Plattformen wollen zwar keine Medien sein, aber funktional sind sie ein wichtiger Teil der demokratierelevanten Kommunikationsinfrastruktur. Damit unter den Bedingungen der Plattformisierung der gesellschaftlichen Kommunikation Sichtbarkeit, informationelle Teilhabe und Einbezug gesichert werden kann, sind regulative Vorgaben notwendig.
Schlüsselwörter: Öffentlichkeit · Transformation · Journalismus · Plattformen · Intermediäres System
Digitalisierung der politischen Kommunikation
Patrick Bonges
KZfSS 74, 2022: 209-230 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Der Beitrag fragt nach strukturellen Veränderungen der politischen Kommunikation, die sich als Folge der Digitalisierung ergeben. Dabei wird eine regelorientierte und institutionalistische Perspektive eingenommen: Digitale Kommunikationsmedien wie Social-Media-Plattformen weisen eigene institutionelle Logiken auf und beeinflussen so die Regeln, nach denen politische Kommunikation stattfindet. Zur Begründung dieser These wird der Begriff Digitalisierung zunächst in technische Möglichkeit und soziale Realisierung unterschieden. Politische Kommunikation wird als Vermittlungsprozess betrachtet. Neben die Selbstvermittlung durch politische Akteure und die Fremdvermittlung durch journalistisch-redaktionelle Medien tritt mit digitalen Kommunikationsmedien ein neuer Typ in den Vordergrund, die automatisiert algorithmische Vermittlung. Aus diesen Unterscheidungen ergeben sich mehrere Paradoxien, die für eine Betrachtung der institutionellen Folgen relevant sind: Digitalisierung senkt die Kosten der Kommunikation und ermöglicht ein Mehr an publizierten Mitteilungen, erschwert jedoch zugleich die Chance gesellschaftlicher Wahrnehmung und gelingender Kommunikation. Durch die automatisiert algorithmische Vermittlung können Akteure ihre Botschaften in höherer Auflösung an spezifische Zielgruppen richten und sich mit ihnen verbinden, die digitalen Formen der Konnektivität erschweren jedoch die für demokratische Prozesse notwendige Repräsentanz und Zurechenbarkeit von Mitteilungen an politische Akteure. Technisch ermöglichte und sozial eingeforderte Transparenz geht mit der Bemühung von politischen Organisationen einher, das eigene Handeln zu verdecken oder zu verschleiern. Digitalisierung und die automatisiert algorithmische Vermittlung führen damit sowohl zu neuen Sichtbarkeiten als auch zu neuen Unsichtbarkeiten des Politischen.
Schlüsselwörter: Vermittlung · Social Media als Institutionen · Konnektivität · Repräsentanz · Sichtbarkeit
Jenseits der Disruption: Zum Lebenszyklus von Pioniergemeinschaften und ihrer Rolle beim Entstehen einer „digitalen Gesellschaft“
Andreas Hepp
KZfSS 74, 2022: 231-255 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Im journalistischen Diskurs wird der Wandel von Gesellschaft hin zu einer „digitalen Gesellschaft“ immer wieder mit Konzepten der disruptiven Veränderung und der Rolle von Start-ups bei dieser gefasst. In Abgrenzung zu solchen verkürzenden Vorstellungen diskutiert der Beitrag die Rolle von Pioniergemeinschaften in Transformationsprozessen der tiefgreifenden Mediatisierung von Gesellschaft. Medienbezogene Pioniergemeinschaften, wie beispielsweise die Quantified-Self‑, Maker- oder Hacks/Hackers-Bewegung, zeichnen sich insbesondere durch ihre experimentellen Praktiken und Imaginationen einer Veränderbarkeit von Gesellschaft durch Medientechnologien aus. Der Beitrag beschreibt den Lebenszyklus von Pioniergemeinschaften, angefangen von ihrer Formierung aus dem Kontext weiterer sozialer Bewegungen und technologiebezogener Gemeinschaften, über ihre Hochphase mit einer großen medialen Aufmerksamkeit und dem Entstehen von Start-ups sowie Ausgründungen bis hin zu deren Ausklang, der immer wieder mit einer teilweisen Veralltäglichung ihres Experimentierens und ihrer Imaginationen einher geht. Dabei wird argumentiert, dass die Rolle von Pioniergemeinschaften in Prozessen tiefgreifender Mediatisierung insbesondere in ihrer Horizonterprobung besteht, also dem Ausloten möglicher Veränderungen, sowie in Prozessen der Übersetzung, worunter einerseits die Übersetzung von Ideen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Domänen zu verstehen ist, andererseits die Übertragung des Experimentellen. Pioniergemeinschaften werden so als wichtige kollektive Akteure der tiefgreifenden Mediatisierung von Gesellschaft greifbar.
Schlüsselwörter: Tiefgreifende Mediatisierung · Gesellschaftliche Transformation · Pioniere · Start-up · Innovation
Wie offen sind „offene“ Online-Gemeinschaften? Inklusion, Exklusion und die Ambivalenz von Schließungen
Laura Dobusch · Leonhard Dobusch
KZfSS 74, 2022: 257-281 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Nach anfänglichem Fokus auf die vermeintlich grenzenlose Offenheit des Internets sowie von onlinebasierten Gemeinschaften im Speziellen sind mittlerweile exkludierende Effekte von „offenen“ Online-Plattformen stärker ins Zentrum soziologischer Aufmerksamkeit gerückt. So zeigt sich auch in als dezidiert offen markierten Online-Gemeinschaften, wie im Bereich der Open-Source-Software oder im Kontext der Online-Enzyklopädie Wikipedia, ein Mangel an Diversität hinsichtlich der Beitragenden wie auch der Beiträge. Mithilfe einer konstitutiven Perspektive auf Offenheit und Geschlossenheit, die diese nicht als jeweilige Endpunkte eines Kontinuums betrachtet, sondern als sich wechselseitig bedingend, entwickelt dieser Beitrag eine Typologie von Offenheit-Geschlossenheit-Konfigurationen charakteristisch für „offene“ Online-Gemeinschaften. Im Ergebnis folgt daraus die Abkehr von der Annahme einer generalisierbaren Offenheit an sich, hin zu spezifischer Offenheit, die mit bestimmten Schließungen einhergeht oder auf diese sogar angewiesen ist.
Schlüsselwörter: Offenheit · Schließung · Wikipedia · Open Data · Diversität
Der „Algorithmic turn“ in der Plattform-Governance.
Christian Katzenbach
KZfSS 74, 2022: 283-305 (Sonderheft)
Zusammenfassung: Die Regulierung von Plattformen ist zu einem zentralen Thema öffentlicher und politischer Debatten geworden: Wie sollen einerseits Anbieter von sozialen Medien mit problematischen Inhalten wie Misinformation und Hassreden umgehen? Und wie sollten wir andererseits Plattformen regulieren, z. B. indem sie für Inhalte haftbar gemacht werden oder zum Einsatz von Upload-Filtern gedrängt werden? Vor diesem Hintergrund rekonstruiert der Beitrag einen „algorithmic turn“ in der Governance von Plattform, d. h. der zunehmenden Positionierung von automatisierten Verfahren zur Adressierung dieser Governance-Fragen. Dabei arbeitet der Beitrag heraus, dass dies eine Entwicklung ist, die keineswegs nur durch technische Fortschritte in der Klassifikation von Inhalten zu erklären ist. Automatisierte Verfahren können nur als schlüssige Lösung für komplexe Verfahren positioniert werden, weil sie sich günstig in diskursive und politische Entwicklungen einbetten lassen. Der Beitrag identifiziert einen diskursiven „responsibility turn“ der zunehmenden Zuschreibung von Verantwortung an die Plattform und eine politisch-regulative Entwicklung der zunehmenden Mithaftung von Plattformen für Inhalte. Dafür kombiniert der vorliegende Beitrag techniksoziologische und institutionentheoretische Perspektiven. Im Schlussabschnitt werden die breiteren Entwicklungslinien einer zunehmenden Institutionalisierung und „Infrastrukturisierung“ von algorithmischen Systemen reflektiert. Der Beitrag identifiziert unter anderem die Gefahr, dass mit der Verlagerung von Entscheidungen über umstrittene Inhalte in Technik und Infrastruktur diese inhärent politischen Fragen der öffentlichen Debatte entzogen und der Entscheidungshoheit der Plattformen überlassen werden.
Schlüsselwörter: Social Media · Regulierung · Techniksoziologie · Diskurse · Plattformen
Why Organization Matters in “Algorithmic Discrimination”
Rena Schwarting · Lena Ulbricht
KZfSS 74, 2022: 307-330 (Sonderheft)
Abstract: Research into “algorithmic discrimination” has largely dismissed the fact that algorithms are often developed and used by organizations. In this article, we show that organizational sociology can contribute to a more nuanced perspective on “algorithmic decision-making.” Drawing on the concept of decision premises, we differentiate between various formal structures, particularly between different decision programs (conditional and purposive). This allows us to challenge two key assumptions, namely that human decision-makers rely heavily on algorithmically generated recommendations and that discrimination against protected groups needs to be solved mainly at the level of code.
We identify the usefulness of distinguishing between conditional and purposive decision programs via a case study centered on the legal context: the risk assessment software “Correctional Offender Management Profiling for Alternative Sanctions” (COMPAS) that is employed in the US criminal justice system to inform judicial personnel about the recidivism risk of defendants. By analyzing the organizational structures, according to which the COMPAS score is formally and informally embedded in courts, we point out that the score represents an ambiguous and redundant information source for judges. The practice of minimizing the relevance of the score and decoupling it from the legal reasoning backstage particularly reflects the professional decision autonomy of judges, which is inherent in the legal system. The core finding of our approach is that strategies to reduce discrimination should not only scrutinize data quality or the statistical model but also consider the specific forms, functions, and consequences of the organizational structures that condition the ways in which discriminatory differences may or may not be (re)produced.
Keywords: Organization · Dicrimination · Automated decision making (ADM) · Legal system · COMPAS · Court · Predictive analytics · Risk assessment
The Digital Trinity—Controllable Human Evolution—Implicit Everyday Religion
Michael Latzer
KZfSS 74, 2022: 331-354 (Sonderheft)
Abstract: How can the ubiquitous digitalization in the early twenty-first century be grasped and characterized? A media-change perspective that focuses on innovation-driven, complex co-evolutionary processes distinguishes two phases of digitalization and points to the following characteristics of its second phase: digitalization is an intertwined bundle of socio-technological transformation processes that reveals itself as a trinity of datafication, algorithmization and platformization. On the industry and politics side, this co-evolutionary trinity is driven by the belief in a scientifically and technologically controllable human evolution, reflected in the pursuit of nano-bio-info-cogno convergence, and accordingly linked to a transhumanism standing for this belief. On the users’ side, the digital trinity is characterized and driven by the convergence of digital technology and religion in the form of an implicit everyday religion. These hallmarks of digitalization lead to a digitally transformed social order, shaped by the interplay of governance by and of this digital trinity, and challenged by growing complexity.
Schlüsselwörter: Digitalization · Datafication · Algorithmization · Platformization · Transhumanism
Zwischen Disruption und Integration: Governance von digitalen Plattformen im Personentransportsektor aus feldtheoretischer Perspektive
Susanne Pernicka · Elke Schüßler
KZfSS 74, 2022: 355-381 (Sonderheft)
Zusammenfassung: In dem Beitrag untersuchen wir die Rekonfiguration von Personentransportmärkten mit Pkw durch digitale Plattformen im Hinblick auf die Frage, ob neue Marktakteure ihre Vorstellung zur Governance dieser Märkte durchsetzen können. Hierfür entwickeln wir einen durch Pierre Bourdieus Sozialtheorie inspirierten feldtheoretischen Zugang, der die Wechselwirkung von endogenen und exogenen Kräften bei Kämpfen um die Governance von Feldern in den Blick nimmt. Empirisch führen wir einen Vergleich des Personentransportsektors mit Pkw in Wien (Österreich) und Berlin (Deutschland) durch. Unsere Ergebnisse zeigen, dass in beiden Märkten keine vollständige Disruption durch neue Akteure und Technologien stattfand. Während in Österreich (Wien) Plattformen in das Taxigewerbe eingegliedert wurden, blieben die feldspezifischen Spaltungen und Grenzkonflikte zwischen Plattformen und Mietwagenunternehmen auf der einen Seite und Taxiunternehmen auf der anderen Seite in Deutschland (Berlin) allerdings aufrecht und wurden durch Plattformen noch verstärkt. Dieses Ergebnis lässt sich vor allem durch unterschiedliche Strukturen und Praktiken der interagierenden assoziativen, politisch-administrativen und rechtlichen Felder sowie durch die resultierenden Deutungskonflikte um die Funktion von digitalen Plattformen in lokalen Taximärkten und im multiskalaren Feld der Macht erklären.
Schlüsselwörter: Digitale Plattformen · Feld der Macht · Pierre Bourdieu · Symbolische Kämpfe · Wirtschaftssoziologie
Applying Machine Learning in Sociology: How to Predict Gender and Reveal Research Preferences
Raphael H. Heiberger
KZfSS 74, 2022: 383-406 (Sonderheft)
Abstract: Applications of machine learning (ML) in industry and natural sciences yielded some of the most impactful innovations of the last decade (for instance, artificial intelligence, gene prediction or search engines) and changed the everyday-life of many people. From a methodological perspective, we can differentiate between unsupervised machine learning (UML) and supervised machine learning (SML). While SML uses labeled data as input to train algorithms in order to predict outcomes of unlabeled data, UML detects underlying patterns in unlabeled observations by exploiting the statistical properties of the data. The possibilities of ML for analyzing large datasets are slowly finding their way into the social sciences; yet, it lacks systematic introductions into the epistemologically alien subject. I present applications of some of the most common methods for SML (i.e., logistic regression) and UML (i.e., topic models). A practical example offers social scientists a “how-to” description for utilizing both. With regard to SML, the case is made by predicting gender of a large dataset of sociologists. The proposed approach is based on open-source data and outperforms a popular commercial application (genderize.io). Utilizing the predicted gender in topic models reveals the stark thematic differences between male and female scholars that have been widely overlooked in the literature. By applying ML, hence, the empirical results shed new light on the longstanding question of gender-specific biases in academia.
Keywords: Computational social science · Machine learning · Topic models · Sociology of science · Gender bias
Data Quality of Digital Process Data
Andreas Schmitz · Jan R. Riebling
KZfSS 74, 2022: 407-430 (Sonderheft)
Abstract: Digital process data are becoming increasingly important for social science research, but their quality has been gravely neglected so far. In this article, we adopt a process perspective and argue that data extracted from socio-technical systems are, in principle, subject to the same error-inducing mechanisms as traditional forms of social science data, namely biases that arise before their acquisition (observational design), during their acquisition (data generation), and after their acquisition (data processing). As the lack of access and insight into the actual processes of data production renders key traditional mechanisms of quality assurance largely impossible, it is essential to identify data quality problems in the data available—that is, to focus on the possibilities post-hoc quality assessment offers to us. We advance a post-hoc strategy of data quality assurance, integrating simulation and explorative identification techniques. As a use case, we illustrate this approach with the example of bot activity and the effects this phenomenon can have on digital process data. First, we employ agent-based modelling to simulate datasets containing these data problems. Subsequently, we demonstrate the possibilities and challenges of post-hoc control by mobilizing geometric data analysis, an exemplary technique for identifying data quality issues.
Keywords: Digital process data · Data quality · Agent-based simulations · Relational data · Post-hoc identification · Mixed methods · Socio-technical systems